Der Grenzgemeinschaftsbahnhof Kietz / Kostrzyn
Ende Mai 1972 - am 28. oder am 30., da unterscheiden sich die Quellen - wurde der Grenzgemeinschaftsbahnhof Kietz / Kostrzyn eröffnet. Es hat nachweislich aber bereits zu Beginn der 1960er Jahre (belegbar ist 1961) ein Büro der Deutschen Reichsbahn in Kostrzyn gegeben. Vor Mai 1972 arbeitete eine Brigade aus fünf bis sechs deutschen Eisenbahnern in Kostrzyn, die mit Übergabe- bzw. Übernahmearbeiten im Güterverkehr beschäftigt waren. Mit der Einrichtung des Grenzgemeinschaftsbahnhofs wurde die Zusammenarbeit aber deutlich vertieft, Daten wurden ausgetauscht und Gütersendungen vorabgefertigt. Mit diesen Maßnahmen wurden die Standzeiten der Züge auf den beiden Bahnhöfen verringert. Im Laufe der Zeit wurden auch deutsche Schlosser, Mitarbeiter der Güterabfertigung, Zollanmelder (mein Vater war einer davon), Zollvorführer und weitere Mitarbeiter in Kostrzyn eingesetzt.
Für die Deutschen Eisenbahner, die in Kostrzyn ihren Dienst verrichteten, fuhr ein Zug (bestehend aus einer Lok und einem Personenwagen), der sogenannte Pendel, zum Schichtwechsel zwischen den beiden Bahnhöfen hin und her. Für das gemeine Volk war die Grenze in Kietz ja nicht passierbar, weder per Bahn noch auf der Straße. Ab 1973 wurden "Freundschaftswettbewerbe" zwischen den Bahnhöfen Kietz und Kostrzyn, die - so Zeitzeugen - wohl politisch korrekt abwechselnd von dem einen oder dem anderen Bahnhof gewonnen wurden, durchgeführt.
Den deutschen Eisenbahnern war es eigentlich verboten, sich frei in der Stadt zu bewegen - abgesehen von ihrem Dienstweg zwischen dem Bahnhof in Kostrzyn und dem Bürogebäude in der früheren Güterbahnhofstraße - worum sich viele aber nicht scherten. Sie gingen in Kostrzyn einkaufen - in den Geschäften und auch auf dem, direkt neben dem Bürogebäude liegenden kleinen Markt. Es kam vor, dass die Eisenbahner, die ja während ihrer Dienstzeit damals noch Uniform tragen mussten, in Kostrzyn angepöbelt und z.B. auch mit ausgestrecktem rechten Arm "gegrüßt" wurden. Zwischen den deutschen und polnischen Eisenbahnern bildete sich aber ein relativ gutes kollegiales Verhältnis. Man lernte einen Teil der jeweils anderen Sprache, so dass es auch mit der Kommunikation einigermaßen klappte. Bei einigen besser, bei anderen schlechter.
Bild 7: Ehemalige Dienststelle der DR in Kostrzyn an der ul. Mickiewicza im Jahre 2011 (Quelle: siehe Ende des Artikels)
Bild 8: Übergabezettel DR / PKP (Quelle: siehe Ende des Artikels)
Bild 9: Dienstausweis meines Vaters (Quelle: siehe Ende des Artikels)
Zu den Kietzer Eisenbahnern, die in Kostrzyn ihren Dienst verrichteten, gehörten meine Eltern: Mein Vater ab 1984, meine Mutter war dann nach der politischen Wende, bereits zur DB-Zeit, eine der letzten deutschen Mitarbeiter(innen) in Kostrzyn. Neben ihr waren zum Schluss nur noch deutsche Wagenmeister in der Dienststelle in Kostrzyn tätig.
Zwischen den Kollegen entwickelte sich ein reger Tauschhandel, z.B. Salami und Schnaps aus der DDR wurden gegen Waren aus Polen getauscht, die in der DDR schwer zu bekommen waren - oder auch, wie bei meinem Vater - gegen deutsche Bücher aus der Vorkriegszeit und Fotos vom alten Küstrin. Viele dieser Tauschobjekte besitzen meine Schwester und ich noch heute. Die Fotos waren alle abfotografiert - also keine Originale. Viele stammten, wie sich später herausstellte, aus dem Buch "Küstrin 1232 - 1932" von Ralf Juon.
Diese "Besuche" in der Stadt gingen auch so weit, dass sich mein Vater z. B. mit einem polnischen Kollegen die Ruinen der Festung und der Kasematten in der Bastion König ansah - lange bevor die Festung aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt wurde. Ich muss noch einmal abschweifen: In meiner Erinnerung war es für mich als kleines Kind völlig unglaublich, dass auf der anderen Seite der Oder eine Stadt existiert, denn - egal wo man an der Oder in Kietz stand - sah man ausser den Schornsteinen der Zellulosefabrik nichts von einer Stadt und erreichbar war sie durch die geschlossene Grenze auch nicht.